Sola Scriptura und die Kirche: Ein Dritter Weg

In einer Zeit, in der kulturelle Gewissheiten erodieren, suchen viele Christen nach festem Boden unter den Füßen. Ich beobachte heute zwei Extreme: Auf der einen Seite steht ein oft geschichtsvergessener Neo-Evangelikalismus, dessen Gottesdienste eher Pop-Konzerten gleichen und dessen Theologie oft nicht tiefer reicht als der letzte emotionale Lobpreis-Song. Auf der anderen Seite sehe ich die monumentale Gestalt der römisch-katholischen Kirche, die mit institutioneller Sicherheit, 2000 Jahren Geschichte und einem unfehlbaren Lehramt lockt.

Gerade für junge, intellektuell redliche Christen, die vom subjektiven Individualismus moderner Freikirchen1 enttäuscht sind, wirkt Rom wie der sichere Hafen. Doch ist dieser Hafen wirklich sicher? Oder ist der Anspruch Roms auf absolute, unfehlbare Autorität am Ende ein Versprechen, das die Geschichte selbst widerlegt?

Dieser Beitrag ist eine Einladung, den „Dritten Weg“ neu zu entdecken: Das klassisch-reformatorische Verständnis von Schrift und Kirche. Ich werde Schritt für Schritt darlegen, warum Sola Scriptura2 keine neumodische Erfindung des 16. Jahrhunderts ist, sondern die Rückkehr zur Praxis der frühen Kirche und die einzige Position, die intellektuell und geistlich tragfähig ist.

Die falsche Alternative: Klassischer Protestantismus vs. moderner Biblizismus

Bevor wir uns mit Rom auseinandersetzen, müssen wir jedoch unser eigenes Haus definieren. Ein Großteil der römisch-katholischen Apologetik kämpft nämlich tagein tagaus gegen einen Strohmann. Wenn katholische Apologeten Sola Scriptura hören, denken sie oft an den modernen Evangelikalen, der allein mit seiner Bibel im Keller sitzt und glaubt, er könne das Christentum jede Woche neu erfinden, völlig losgelöst von 2000 Jahren Kirchengeschichte.3

Doch das klassisch-reformatorische Verständnis unterscheidet sich fundamental vom modernen Neo-Evangelikalismus, welchen die katholischen Apologeten gedenken zu portraitieren4.

Der kleine aber feine Unterschied zwischen der reformatorischen und der allgemein evangelikalen Position

Viele Evangelikale der heutigen Zeit proklamieren: „Kein Bekenntnis außer der Bibel.“ Tradition wird dabei oft als Ballast oder gar als „religiöser Geist“5 abgelehnt. Die Kirche ist im Grunde unsichtbar; die Institution ist unwichtig wenn nicht sogar negativ konnotiert. Wenn die Gemeinde zu liberal wird, gründet man einfach eine neue.

Die Reformatoren wollten jedoch die Kirche nicht neu gründen, sondern reinigen. Sie glaubten an die eine6, sichtbare Kirche. Martin Chemnitz7, der bedeutendste lutherische Theologe nach Luther, macht in seinem Examen Concilii Tridentini8 deutlich, dass wir als Protestanten die Tradition nicht verwerfen.9 Wir unterscheiden jedoch zwischen Traditionen, die das Evangelium bezeugen10, und solchen, die neue Dogmen ohne biblische Basis einführen.

Die Schrift ist hier die Norma normans11, die Bekenntnisse und die Tradition sind die Norma normata12. Wir stehen auf den Schultern der Kirchenväter, aber wir lassen uns von ihnen nicht die Augen zuhalten, wenn die Schrift klar spricht.

Sola Scriptura: Ein frühkirchliches und biblisches Prinzip

Der häufigste Einwand Roms lautet: „Wo steht Sola Scriptura in der Bibel? Die Bibel sagt nie, dass sie die einzige Autorität ist.“ Dieser Einwand beruht auf einem Missverständnis dessen, was Autorität im Volk Gottes bedeutet.

1. Das Zeugnis des Alten Testaments und Jesu Umgang mit Tradition

Schon im Alten Testament gab es eine von Gott eingesetzte, sichtbare Institution: das levitische Priestertum und den „Stuhl Mose“. Diese Institution hatte Autorität. Und doch: Sie war fehlbar:

Wer korrigierte die Institution? Die Propheten. Und worauf beriefen sie sich? Auf das Wort Gottes15.

Das stärkste Argument für Sola Scriptura liefert Jesus selbst in Matthäus 15. Die Pharisäer fragen ihn: „Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten?“ Die Pharisäer saßen auf dem Stuhl Mose16, sie hatten die Sukzession17. Doch Jesus antwortet:

„Warum übertretet denn ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? [...] So habt ihr das Wort Gottes aufgehoben um eurer Überlieferung willen.“18

Jesus etabliert hier ein klares Prinzip: Wenn eine Tradition – selbst wenn sie von der etablierten religiösen Autorität kommt – dem Wort Gottes widerspricht, muss die Tradition weichen. Er setzt nicht eine rivalisierende Institution dagegen, sondern das geschriebene Wort. Das ist Sola Scriptura in Aktion.

2. Die Kirchenväter und die materielle Genüge der Schrift

Römische Apologeten zitieren oft Kirchenväter, die die Autorität der Kirche betonen. Das tun wir Protestanten auch! Aber die Frage ist: Was ist die höchste Quelle der Wahrheit für die Väter?

Für die Väter war die Bibel materiell genügsam. Das bedeutet: Alles, was zum Heil notwendig ist, steht in der Schrift. Die Idee, dass es eine zweite, mündliche Quelle der Offenbarung gibt, die völlig neue Dogmen enthält23, ist eine mittelalterliche Erfindung, die den Vätern fremd war.

3. Das Schein-Problem des Kanons

Ein Standard-Einwand lautet: „Du kannst keine unfehlbare Bibel haben ohne eine unfehlbare Kirche, die den Kanon festlegt.“ Dieses Argument scheitert an der Geschichte Israels. Die Juden zur Zeit Jesu hatten einen feststehenden Kanon der Schriften24, obwohl sie kein unfehlbares Lehramt und kein ökumenisches Konzil hatten. Jesus und die Apostel machten die Juden dafür verantwortlich, die Schriften zu kennen. Wie wussten sie, welche Bücher dazugehörten? Durch die geistliche Erkenntnis des Volkes Gottes über die Jahrhunderte hinweg25. Die Schafe hören die Stimme ihres Hirten26. Die Kirche hat den Kanon nicht erschaffen oder autorisiert, sondern sie hat ihn erkannt27, so wie wir erkennen, dass Jesus Gott ist, ohne dass wir ihn erst zu Gott „wählen“ müssten. Ein fehlbares Konzil kann eine unfehlbare Wahrheit korrekt erkennen und bezeugen.

Warum der römische "Fels" brüchig ist: Widersprüche und Revisionismus

Viele Protestanten werden katholisch, weil sie eine „absolute Sicherheit“ suchen, die ihnen ihr Pastor nicht geben kann. Sie wollen jemanden, der unfehlbar sagt: „So ist es.“ Rom behauptet, diese Instanz zu sein. Doch dieser Anspruch hält einer historischen Prüfung nicht stand.

Wenn Rom behauptet, die Lehre sei unveränderlich und das Lehramt unfehlbar, müssen wir uns fragen: Warum widerspricht sich dieses Lehramt dann selbst? Hier sind drei gravierende Beispiele, die zeigen, warum das römische System epistemologisch28 kollabiert.

1. Wer kann gerettet werden? (Florenz vs. Vatican II)

Man kann nicht beides haben. Entweder irrte Florenz, als es alle Nicht-Katholiken zur Hölle verdammt, oder Vatican II irrt, wenn es Heilsmöglichkeiten außerhalb der Kirche sieht. Römische Theologen versuchen dies mit „Entwicklung der Lehre“ zu erklären, aber eine Entwicklung von „Nein, niemals“ zu „Ja, vielleicht“ ist keine Entwicklung, sondern eine Korrektur. Wenn das Lehramt korrigiert werden muss, ist es nicht unfehlbar.

2. Wer hat das Sagen? (Konstanz vs. Vatican I)

Im Großen Abendländischen Schisma35 gab es zeitweise drei Päpste, die sich gegenseitig exkommunizierten. Niemand wusste, wer der wahre Papst war.

Das ist ein historischer Zirkelschluss: Die Legitimität der heutigen Papstlinie beruht auf dem Konzil von Konstanz, das einen Papst absetzte und einen neuen wählte. Aber die heutige Lehre39 verurteilt die Theologie40, die diese Rettung erst ermöglichte, als Häresie.

3. Moralische Kehrtwenden (Todesstrafe und Religionsfreiheit)

Das Fazit: Ein „unfehlbares“ Lehramt, das heute verbieten kann, was es gestern geboten hat, bietet keine Sicherheit. Es verlagert das Problem nur. Der Protestant muss ringen, um die Bibel zu verstehen. Der Katholik muss ringen, um die Bibel und Jahrtausende widersprüchlicher Kirchendokumente miteinander in Einklang zu bringen.

Die positive Vision: Warum protestantisch sein?

Wenn wir Rom ablehnen, landen wir dann nicht im Chaos? Römische Apologeten werfen uns vor, den Leib Christi in 30.000 Splittergruppen zerteilt zu haben.

1. Der Mythos der 30.000 Denominationen

Diese Zahl ist eine statistische Fiktion. Sie entsteht, indem man jede unabhängige afrikanische Kleingruppe und jeden freikirchlichen Pastor in den USA als eigene Konfession zählt. In Wahrheit gibt es historisch gesehen nur wenige Hauptströme des klassischen Protestantismus46. Diese Kirchen stehen heute oft in Kirchengemeinschaft47. Zudem: Ist Rom wirklich „eins“? Formal ja, unter dem Papst. Aber faktisch sehen wir in Rom heute eine Zerrissenheit, die jene im Protestantismus in den Schatten stellt: Der „Synodale Weg“ in Deutschland predigt eine völlig andere Religion als ein traditionalistischer Katholik in den USA oder Afrika. Die Einheit unter dem Papst ist oft nur eine Fassade, hinter der die gleichen theologischen Kämpfe toben wie überall sonst.

2. Wahre Katholizität ohne päpstlichen Absolutismus

Das reformatorische Schriftverständnis ermöglicht uns, wirklich katholisch48 zu sein.

3. Institutionelle Demut

Das reformatorische Verständnis ist das demütigste. Es gesteht ein: „Ja, die Kirche kann irren.“ Das klingt zunächst beunruhigend, ist aber biblisch realistisch49. Diese Einsicht schützt uns vor Götzendienst an der Institution. Sie zwingt uns, immer wieder zur Quelle zurückzukehren: Ad Fontes – zu den Schriften. Eine Kirche, die zugibt, dass sie unter dem Wort Gottes steht und von ihm korrigiert werden muss, ehrt Gott mehr als eine Kirche, die behauptet, sie könne das Wort Gottes unfehlbar verwalten und besitzen.

Schlussgedanke: Wohin sollen wir gehen?

Petrus fragte Jesus einst: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“50. Er sagte nicht: „Du hast eine unfehlbare Struktur.“ oder „Institution“

Das reformatorische Schriftverständnis ist eine Einladung zum Vertrauen. Nicht Vertrauen in meine eigene private Auslegung51, aber auch nicht blindes Vertrauen in eine sich wandelnde Hierarchie52. Es ist das Vertrauen darauf, dass Gott klar genug gesprochen hat, um seine Gemeinde durch sein Wort und seinen Geist zu leiten.

Wer in den klassischen, bekenntnisgebundenen Protestantismus zurückkehrt, findet dort das Beste aus beiden Welten: Die tiefe Verwurzelung in der Geschichte und den Sakramenten der alten Kirche, gepaart mit der befreienden Klarheit des Evangeliums, das allein in Christus und allein aus Gnade rettet – so wie es in der Schrift steht.


  1. etwa der New Apostolic Reformation oder rein „Non-Denominational“ geprägten Gruppen↩︎

  2. allein die Schrift↩︎

  3. Das ist an dieser Stelle die Karikatur vieler katholischer Online-Apolegeten, nicht meine eigene Sicht auf die Evangelikale Bewegung↩︎

  4. und dabei nur einen Strohmann errichten↩︎

  5. in diesem Sinne aus der allgemein-evangelikalen Sicht steht dieser als Gegenteil zum Lebendigen Glauben in Beziehung mit Christus↩︎

  6. heilige, katholische6 und apostolische Kirche, vgl. im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel↩︎

  7. 1522–1586↩︎

  8. Die Untersuchung des Konzils von Trient ist das Werk, in dem sich Chemnitz mit dem Konzil von Trient auseinandersetzt, bei welchem streng gegen die Protestantischen Christen vorgegangen wurde↩︎

  9. Vgl. Martin Chemnitz, Examen Concilii Tridentini. Chemnitz unterscheidet acht Arten von Tradition. Wir akzeptieren jene, die die Schrift auslegen und bezeugen (wie den Kanon), verwerfen aber jene, die ohne Schriftgrundlage heilsnotwendige Dogmen aufstellen.↩︎

  10. wie die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse↩︎

  11. die normierende Norm↩︎

  12. die genormte Norm↩︎

  13. Exodus 32↩︎

  14. 2. Könige 21↩︎

  15. das Gesetz und den Bund↩︎

  16. Matthäus 23, 2↩︎

  17. Amtsnachfolge mit der dadurch weitergegebenen Autorität↩︎

  18. Mt 15,3.6↩︎

  19. 4. Jh.↩︎

  20. Cyrill von Jerusalem, Katechetische Vorlesungen, 4.17.↩︎

  21. auch die der Bischöfe und Konzilien↩︎

  22. Augustinus, Brief an Hieronymus (Epistula 82, 1.3). Augustinus unterscheidet scharf zwischen der kanonischen Autorität der Apostel und der fehlbaren Autorität späterer Bischöfe.↩︎

  23. wie etwa die Unfehlbarkeit des Papstes oder die leibliche Aufnahme Mariens↩︎

  24. Gesetz, Propheten, Schriften↩︎

  25. Sola Apostolica↩︎

  26. Joh 10,27↩︎

  27. recognitio↩︎

  28. erkenntnistheoretisch↩︎

  29. 1442↩︎

  30. unfehlbar↩︎

  31. Konzil von Florenz, Bulle Cantate Domino (1441). Dieser Text ist in seiner Absolutheit unvereinbar mit der inklusivistischen Sprache von Lumen Gentium (Vatican II) und Nostra Aetate.↩︎

  32. 1964↩︎

  33. Nr. 16↩︎

  34. die das Papsttum ablehnten↩︎

  35. 1378–1417↩︎

  36. Konzil von Konstanz, Dekret Haec Sancta (1415). Die Ironie der Kirchengeschichte ist, dass die Päpste ihre heutige Linie nur dank eines Konzils haben, dessen Theologie sie heute ablehnen.↩︎

  37. 1870↩︎

  38. aus sich heraus↩︎

  39. Vatican I↩︎

  40. Konziliarismus↩︎

  41. inklusive Kirchenväter und Päpste↩︎

  42. Konzil von Trient↩︎

  43. Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2267 (in der Fassung von 2018). Dies widerspricht dem Catechismus Romanus des Konzils von Trient (1566), der die Todesstrafe als Akt des Gehorsams gegenüber dem 5. Gebot (!) verteidigte.↩︎

  44. im Syllabus Errorum↩︎

  45. Dignitatis Humanae↩︎

  46. Lutheraner, Reformierte, Anglikaner↩︎

  47. Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, zur Freude mancher und zum großen Schmerz anderer↩︎

  48. allgemein christlich↩︎

  49. siehe Israel, siehe die Jünger↩︎

  50. Joh 6,68↩︎

  51. das ist der große Fehler vieler liberalen Theologen oder hyper-biblizistischen Bewegungen↩︎

  52. das ist der Fehler Roms↩︎